Der Mantel
Er sitzt beim Essen am Tisch im Mantel.
Sagt sie zu ihm: „ Warum ziehst Du Dir nicht den Mantel aus?“ „Du siehst ja aus
wie ein Besucher.“ Seine trockene Antwort: „Wir sind alle Besucher.“ „Kommen
an, sehen uns ein bisschen um und verschwinden dann wieder.“
Abends liegt er mit seinem Mantel im
Bett. Sagt sie zu ihm: „Warum ziehst Du Dir beim Schlafen nicht den
Mantel aus?“ Leicht
abwesend antwortet er: „Man weiß ja nie, zu welcher Jahreszeit man mal beerdigt
wird.“ „Der Boden unter mir kann kalt sein.“ „Es ist doch dumm, wenn ich mir
schon vorher was weghole.“ „ Also lass ich gleich den Mantel an.“
Sagt sie zu ihm: „Du könntest mir auch
mal einen neuen Mantel kaufen!“ Er sieht für eine Weile aus dem Fenster und dreht sich zu ihr um: „Kann
ich nicht verstehen – jetzt ist doch Sommer!“
Tage später holt sich der Nachbar den
weggeworfenen Mantel aus der Mülltonne und läuft gleich voller Freude zu seiner
Frau. „Sieh mal – so ein schöner Mantel und noch dazu aus reiner Wolle.“ „Jetzt
ist doch Sommer lieber Mann“, kommt ihre Antwort und ihr Blick geht dabei rüber
zur Straße.
Erneut sitzt das erste Paar beim Essen
am Tisch. „Also hast Du doch endlich den Mantel ausgezogen“, fragt sie ihn mit
einem leichten Lächeln im Gesicht. „Er hat mich beim Brotschneiden etwas
gestört meine Liebe“, gleitet ihm belanglos die Antwort von den Lippen. „Im
Winter bleiben wir dann wohl besser bei Suppe oder leichtem Eintopf.“ „Da kann
ich auch in eine Decke gehüllt immer noch meine Arme bewegen“, ist seine
Antwort während vom oberen Stockwerk der Mantel auf die Straße geworfen wird.
Es wird bereits dunkel, als ein Hund
daran schnüffelt und noch schnell seine Notdurft auf dem Mantel hinterlässt. Sein
eigenes Fell ist ihm warm genug, dann verschwindet er um die nächste Ecke.
„Sieh mal, was die Leute so alles
wegschmeißen“, blickt sie wieder zum Fenster hinaus. „Man könnte fast meinen,
da liegt einer in Deinen Mantel gehüllt auf der Straße.“ „Halt selber Schuld –
jetzt ist doch Sommer!“
Wochen später fallen bereits die ersten
braun-bunten Blätter von den Bäumen. Der Herbst ist ins Land gezogen. Ein
leichter Wind bringt schon die Kälte herüber. „Sieht doch schön aus, wenn die
Straßen und Plätze mit Laub geschmückt sind – oder was meinst Du mein Lieber“,
flötet sie ihm am Fenster ins Ohr. „Ich verstehe schon“, seine Antwort ohne
viel Aufmerksamkeit für sie. „Adam und Eva hatten ja auch nur ein einfaches
Feigenblatt am Körper.“ „Besser wir wären damals alle im warmen Paradies
geblieben und müssten jetzt nicht an einen neuen Mantel denken.“ „Da kommt man
sich ja beim Essen im Mantel wieder wie ein Besucher vor, weil keiner weiß, ob
er nicht doch bald raus auf die Straße kann.“ „Schon merkwürdige Zeiten –
erneut mit Mantel oder aber viel später nur im Hemd und leichtem Schuhwerk?“
„Alles ist im Fluss, alles hat seine Zeit, alles ist nicht mehr zu verstehen!“
„Mit Mantel – ohne Mantel, im Haus – aus dem Haus!“
Mit weiblicher Sachlichkeit und einem hastigen Blick zu ihm gewandt: „Komm, setz Dich an den Tisch und iss jetzt Deine Suppe.“ „Der Mantel kann noch warten“ – ihr guter Rat.
Die Nacht gleitet langsam ins Zimmer mit zarter Dunkelheit und
beklemmender Stille unten von der Straße. „Schalte mal den Fernseher ein und
überlass doch die Träumereien anderen Weisen aus dem ‚Abendland‘ mit ihrer
leichten Kost und verständlicheren Tagesphilosophie“, ihr kurzer Kommentar.
„Den Haken für den neuen Mantel müsstest Du auch noch fester anschrauben –
Liebling“, und dann klappert auch schon das Geschirr mit alter Sachlichkeit im
Spülbecken.